Per Anhalter zu Nelson Mandela

Per Anhalter zu Nelson Mandela

Stell dir vor, du stehst an einer Piste am Rande der Kalahari und willst per Anhalter durch diese Savannen-Wüste reisen. Je nachdem, wer dich mitnimmt, kann dein Leben einen anderen Dreh nehmen. Als ich mich kürzlich an einem Workshop anhand einer Situation vorstellen musste, wählte ich diese. Denn ich mag das Unvorhersehbare und die Überraschung. Erst einige Zeit nach dem Workshop überlegte ich mir, wo mich diese Situation eigentlich hingeführt hatte. Es sollte Erstaunliches herauskommen.

Namibia, September 1993, an ebendieser Stelle. Ich wartete lange, den ganzen Tag, vergebens. Erst am nächsten Tag nahm mich ein jüngeres Paar mit. Sie fuhren zu Grossfarmen in Namibia und verkauften dort „geschmacklose Kunst an geschmacklose Leute“. Zur ersten Farm – einer Wildtierfarm wo Tiere gegen Geld erlegt werden konnten – ging ich mit. Danach durfte ich noch ein paar Stunden unterhaltsame Fahrt erleben. Als sie zur nächsten Farm abbiegen mussten, verliess ich die beiden mit einem Gefühl von Freundschaft. Ihnen schien es ähnlich zu ergehen. Sie verabschiedeten mich mit den Worten „Simon, you’re mad. But you must visit us in Port Elisabeth.“ In den nächsten Tagen reiste ich mit den unterschiedlichsten Leuten weiter, übernachtete mal in einer San Siedlung (ehem. Buschmänner genannt), mal als Gast bei der Polizei in einer Zelle, mal in einem Lastwagen und oft im Zelt im Niemandsland. Die vielen Gespräche wurden oft persönlich und ehrlich, vielleicht, weil ich ein anonymer Gesprächspartner war. Ich erfuhr enorm vieles über diese Menschen, über Gesellschaft, Geschichte und natürlich über Politik. Über den Angola-Krieg, die Unabhängigkeit Namibias und über Segregation. So reiste ich während sieben Monaten per Anhalter durchs südliche Afrika. Auch der verlockenden Einladung nach Port Elisabeth folgte ich, trotz des drohenden Bürgerkriegs. In jedem Auto wurde mir dringend vom Trampen abgeraten. Autostopp sei lebensgefährlich. In eine heikle Situation bin ich allerdings nie geraten. Das Gegenteil war der Fall. Die Südafrikaner erlebte ich als unglaublich herzlich und gasfreundlich. Ich wurde von Indern, Weissen, Schwarzen, Coloureds oder von anderen Touristen mitgenommen. Während den langen Autofahrten lernte ich unglaublich viele Schicksale, Facetten und Ansichten kennen. Und bei den meisten Gesprächen war das Thema früher oder später der drohende Bürgerkrieg. Denn nach der Freilassung Nelson Mandelas ging es nun um die friedliche Transformation Südafrikas in eine Demokratie. Diese wurde von den meisten Menschen als unmöglich angesehen. Die Gewalt war am Eskalieren. Das Ende der Apartheid hatte Wut, Rachegelüste und neue Machtansprüche hervorgebracht.

Nach meiner langen Reise durch Afrika verfolgte ich die Geschehnisse in Südafrika besonders aufmerksam. Die übermenschlich wirkenden Gesten Mandelas, die zur Versöhnung führten, die unglaublich schmerzhaften aber heilenden Anhörungen in den Wahrheitskommissionen, wo Täter und Opfern sich gegenüber standen, den friedlichen Übergang zu einer Demokratie. 

Neun Jahre nach den ersten freien Wahlen erfuhr ich, dass die Südafrikanische Botschaft in Bern Feierlichkeiten plante. Ich dachte, dass zum 10 Jahre Jubiläum aber vor allem die unglaubliche Geschichte der Überwindung der Apartheid erzählt werden sollte. So rief ich die Botschafterin an und schlug ihr ein Ausstellungsprojekt vor. Nach intensiven Gesprächen wurde das Projekt «Freedom – Von der Apartheid zur Demokratie» angepackt. Ausschlaggebend für meine Glaubwürdigkeit war der tiefe Einblick während des Trampens. Ich durfte Südafrika wieder besuchen. Für die Recherchen standen mir Tür und Tore offen.

Drei Jahre später wurde ich vom Aussenministerium Südafrikas eingeladen, eine Ausstellung über Nelson Mandela anlässlich seines 90. Geburtstags zu realisieren. Wieder hatte ich in Südafrika exklusiven Zugang zu Institutionen und Persönlichkeiten aus der Entourage von Mandela. Mandela selbst traf ich nie. Aber ich glaube, seiner Person kam ich ziemlich nahe.

Nie hätte ich mir erträumen lassen, eingeladen zu werden, eine Ausstellung über Nelson Mandela zu realisieren. Was wäre gewesen, wenn mich damals am Rande der Kalahari ein anderes Auto mitgenommen hätte und ich nicht nach Port Elisabeth eingeladen worden wäre? Also alles nur ein grosser Zufall? Nicht nur. Denn da ist nur eine von vielen überraschenden Geschichten, die ich dank Risikofreude und Neugier beim Trampen erlebt habe. Autostopp ist eine der spannendsten, lehrreichsten und schönsten. Formen des Reisens. Denn die meisten Leute die einen mitnehmen, sind offen, gutmütig und nicht selten spannende Persönlichkeiten. Als Tramper lernte ich zuzuhören, zu erzählen, nachzudenken sowie verschiedene Positionen und Ansichten zu verstehen. Autostopp ist aufregend wie ein Roadmovie.

Und was hat Autostopp eigentlich mit dem Format Vice Versa zu tun? Es ist eben auch eine Umkehrung zu unserem strukturierten, durchgeplanten, sicherheitsbedachten Leben, Denken und Wirken. Wer sich über längere Zeit an den Strassenrand stellt, muss die Komfortzone verlassen, sich jedem Wetter stellen, offen und dankbar sein, sich treiben lassen können. Autostopp ist zudem eine unglaubliche Quelle, um sich neue Fähigkeiten anzueignen, z.B. kreatives Denken zu fördern.  

Wieso ist Autostopp heute so selten? Weil uns die omnipräsente Sicherheitsdoktrin misstrauisch macht? Weil uns die immer stärkere Individualisierung und der Wohlstand isolieren und uns voneinander entfremden?  Ich bin überzeugt, dass wir durch eine Autostopp-Kultur enorm voneinander profitieren können. Wir lernen Situationen und Leute kennen, denen wir sonst kaum begegnen würden. Und nach fast jeder Gastfahrt fühlten sich beide Seiten gut. Wäre es nicht sinnvoll, für gewisse Studienrichtungen Tramperreisen als Teil des Studiums einzuführen? Ich bin überzeug, dass dadurch viel Positives und Innovatives entstehen würde.

Der Ire Ruairí McKiernan hat aufgrund von zahlreichen Tramperreisen eine erfolgreiche Organisation gegründet, wurde Autor, Redner und 2012 von Präsident Michael D. Higgins in den irischen Staatsrat berufen. Einige Jahre später wurde er beauftragt, eine Rede über die Sicht der Bürger zur Zukunft des Landes zu halten. An Stelle einer Umfrage besann er sich auf seinen Ursprung zurück. Obwohl ihn viele von seiner Idee abhalten wollten, bereiste er per Anhalter das ganze Land. Entstanden ist der internationale Bestseller Hitching for Hope – a Journey into the Heart and Soul of Ireland.


Simon Haller ist Ausstellungsmacher, hat vor 16 Jahren die Expoforum GmbH gegründet. Er schreibt für die Kunst-Zeitschrift ensuite, ist Redaktor und Referent des forumviceversa.ch.