Die Marktforschung ist keine Autorin

Finde den Unterschied. Das Amerikanische Filmplakat zur Linken und sein Chinesisches Pendant rechts.

Die Marktforschung ist keine Autorin 

Von Nils Mosimann

Hollywood lebt seit nunmehr 15 Jahren davon, die Erinnerungen an Helden und Universen aus Kindheitstagen in Form von Prequels, Sequels, Neuverfilmungen oder Serienadaptionen wieder aufzuwärmen. Genau wie bei Lebensmitteln ist auch hier das Ziel, Bewährtes nicht verderben zu lassen und Geld zu sparen. So spannend das Ausprobieren neuer Rezepte sein mag, es birgt immer auch die Gefahr, dass ein Gericht schlecht ankommt. Die Suppe, welche am Vortag geschmeckt hat, wird hingegen auch heute noch von allen gegessen werden. Allerdings wird erstens der Enthusiasmus nicht mehr der gleiche sein und zweitens wird ein ständiges Verwässern der einst reichhaltigen Speise einen zusehends faden Nachgeschmack hinterlassen. So kann eine nicht erfüllte Erwartungshaltung gerade bei unseren Lieblingsspeisen weit mehr enttäuschen als ein neuer Geschmack, der uns nicht vollkommen zu überzeugen weiss. Genauso verhält es sich auch bei Filmen. So verständlich die Absicht von profitgetriebenen Filmstudios beim Griff zur Mikrowelle auch ist, so unerklärlich scheint die Beobachtung, dass vermehrt nur verwässert, kaum aber nachgesalzen wird. Die Suche nach den Gründen für die zusehende Geschmacklosigkeit Hollywoods entlarvt ein grundlegendes Problem des heutigen Kulturbetriebes.

Beginnen wir mit einem Blick zurück. Im Dezember des Jahres 2001 sollte das Erscheinen eines Filmes das Leben eines damals gerademal 10-jährigen Jungen nachhaltig prägen. Ich erinnere mich gut, wie mich mein Vater – getrieben von Erinnerungen an die Lektüre aus seiner Jugend – ins Kino mitnahm, wo ich in eine vollkommen neue und doch seltsam vertraute Welt eintauchte. Der Film, welcher meine Kindheit und frühe Jugend prägen sollte wie kein Zweiter, war Peter Jacksons Der Herr der Ringe. Weil ich mit Geschichten aus der griechischen Mythologie und nordischen Sagen aufgewachsen bin, war mir bereits in diesem zarten Alter sofort klar, dass ich es hier nicht mit irgendeiner Fantasy-Geschichte zu tun hatte. Später sollte ich herausfinden, dass Tolkien, der Autor der Geschichte, tatsächlich kein geringeres Ziel verfolgte, als eine neue Sagenwelt für England zu schaffen, die im Laufe der Jahrhunderte durch äussere Einflüsse beinahe verschwunden war. Seine Passion rührte dabei von der Sprache her. Er selbst soll eine schier unüberschaubare Palette aus alten und zeitgenössischen Sprachen beherrscht haben. So etwa Alt- und Mittelenglisch, Finnisch, Gotisch, Walisisch, Griechisch, Italienisch, Spanisch, Altnordisch und Isländisch. Er selbst sagte „Das Erfinden von Sprachen ist das Fundament. Die ‚Geschichten‘ wurden eher so angelegt, dass sie eine Welt für die Sprachen abgaben, als umgekehrt.“ Das ist nicht übertrieben, bedenkt man, dass der Mann nicht weniger als 15 eigene Sprachen erfunden und entwickelt hat. Kurz gesagt: Die Geschichte vom Herrn der Ringe ist bloss die Spitze eines mythologischen Eisberges, geschaffen von der Leidenschaft eines getriebenen Genies. Auch wenn kein Hollywood-Blockbuster dieser Tiefe ansatzweise gerecht werden kann, so kann Peter Jacksons Filmadaption doch die Faszination dafür wecken und zum Eintauchen einladen. Denn auch abgesehen vom inhaltlichen Reichtum der Geschichte, darf der Film als sogenannter „Gamechanger“ bezeichnet werden. Nach über zehnjähriger Entwicklung entstand in zusammengerechnet unglaublichen 2350 Drehtagen ein roher Diamant, der während 3 Jahren (ein Jahr pro Film) in der Nachbearbeitung zu einem Meisterwerk geschliffen wurde. Ein passioniertes Team arbeitete an einem finanziellen Hochrisikoprojekt und machte einen Klassiker der Literaturgeschichte zum Klassiker der Filmgeschichte.

Als 2012 mit dem ersten Teil der Hobbit-Trilogie ein weiteres Werk von Tolkien in die Kinos kam, hatte sich die Filmindustrie stark verändert. Wer seine kindliche Tolkien-Euphorie aus vergangener Dekade ins Kino mitnahm, sollte sie enttäuscht dort zurücklassen. Schnell war klar: Hier wurden einem aufgewärmte Reste von vorgestern serviert. Aussen verbrannt, innen noch gefroren. Oder anders gesagt: Ein undurchdachtes Drehbuch wurde hastig und ästhetisch unappetitlich umgesetzt. Aufnahmen von Dreharbeiten und Interviews mit Beteiligten ist zu entnehmen, dass die Fachleute – also Drehbuchautoren, Setdesigner, Schauspieler und vor allem der Regisseur – ihre Entscheidungsgewalt weitestgehend an Marketingfachleute des Filmstudios abgegeben hatten.

Zeitgenössische Filmstudios propagieren um jeden Preis eine Agenda und opfern dafür – unbewusst oder mutwillig – die Integrität des Produkts. Heute, knapp 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Teils der Verfilmung von Der Herr der Ringe, würde ganz anders mit dem Ausgangsmaterial umgegangen werden. War damals das Ziel, der Geschichte so gerecht wie irgend möglich zu werden, würde sie heute lediglich als Mittel missbraucht, um an schöne Erinnerungen einer breiten Kundschaft anzuknüpfen. Es geht bloss um das Erzeugen von positiv konnotierter Aufmerksamkeit, der dann ein politisches Programm unter dem Deckmantel einer erfundenen Geschichte nachgeschoben wird. Und das geht weit über die Filmbranche hinaus. Luden beispielsweise die Abenteuer von Peterson und Findus in der gleichnamigen Bilderbuchreihe von Sven Nordqvist zum Verweilen in einem visuellen Spielplatz ein, stossen die oft vor Moral triefenden zeitgenössischen Bilderbücher sauer auf.

Kaum ein Beispiel verdeutlicht die unheilige Allianz aus Gier und idealistischem Sendungsbewusstsein besser als die neuen Star Wars Filme. Einerseits wollte Lucasfilm progressive Ideale zum Leitmotiv machen und baute in den ersten beiden Filmen der Trilogie eine homosexuelle Romanze zwischen dem dunkelhäutigen Finn und dem erst „toxisch männlichen“, aber immerhin änderungswilligen Poe auf. Bald sollte sich aber herausstellen, dass der heute finanziell so wichtige Chinesische Markt weder auf Afroamerikanische Schauspieler, noch auf gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen abfährt und so tauchen im letzten Teil und entgegen dem bisherigen Verlauf der Geschichte aus dem Nichts Partnerinnen für die beiden auf und der Schauspieler John Boyega wird kurzerhand vom Chinesischen Filmplakat verbannt. So amüsant es ist, diesen inneren Zwist der Filmstudios zwischen Idealismus und profitorientiertem Marketing zu beobachten, so schockierend ist die Erkenntnis, dass der eigentlichen Geschichte des Films an sich keinerlei Bedeutung beigemessen wird. Ein Film verkommt zum blossen Marketingprodukt, das in der Postproduction verzweifelt zu einer Art Geschichte zusammengebastelt wird.

Wer in einer multikulturellen Welt mit oft diametral gegensätzlichen Werten verschiedener Völker und Gesellschaften Allen und Jedem gefallen will, kann nur scheitern. Kultur kann uns für ein Thema sensibilisieren und begeistern. Die Meinung zum Gezeigten muss sich der Zuschauer jedoch selber bilden können. Nur ein Medium, das moralschwangere, kurzlebige politische Inhalte zugunsten einer kohärenten, packenden und begeisterungsfähigen Geschichte zurücknimmt, wird einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Der gängigen Verschiebung der Entscheidungsgewalt innerhalb des Kultursektors von Machern hinzu Marketingabteilungen muss entgegengewirkt werden. Marktforschungsstudien werden keine neuen Geschichten hervorbringen, die wir dereinst begeistert mit unseren Kindern teilen wollen. Dazu braucht es Autoren, Regisseure, Kunstschaffende.


Der Autor arbeitet als Illustrator und Ausstellungsgestalter bei der Expoforum GmbH.

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