Das kann jedes Kind!

Höhlenmalereien aus Lascaux: Die abstrakte Verdichtung der Realität in eine virtuos gezogene Linie bringt auch – gemäss neusten Forschungen 17‘000 bis 38’000 Jahre nach ihrem Entstehen – Gross und Klein zum Staunen.

Kunstkritik für Dummies 

Von Nils Mosimann

„Das hätte mein Kind auch gekonnt!“ Oder: „Das verstehe ich beim besten Willen nicht.“ Diesen berühmt-berüchtigten Aussagen zahlreicher frustrierter Kunstneulinge ist einerseits zu entnehmen, dass viele Eltern ihre Kinder nicht verstehen und andererseits, dass Kunst ohne Reflexion unter Zuhilfenahme von Fachwissen oft nicht lesbar ist. Gerade dieses Unverständnis ist nicht selten beabsichtigt und wird von der Kunstwelt als Selbstschutz missbraucht. Das visuell nicht ansprechende Erscheinungsbild als mutwillig ausgelegte Falle, mit welcher der Künstler ahnungslose Besucher als Kulturbanausen entlarvt. Denn wer etwas nicht versteht, kann es nicht glaubhaft kritisieren. Kunst präsentiert sich uns heute oft wie ein Bankschliessfach: Von aussen wirkt es unspektakulär und gleichwohl – oder gerade deshalb – sind wir überrascht, wenn nichts Wertvolles darin liegt. Zeit den Safe zu sprengen und freizulegen was dahinter liegt – oder eben nicht.

 

Was aber ist Kunst überhaupt? Gemäss eigenen Feldstudien aus Studienzeiten an der Kunsthochschule sind die zwei Topantworten: „Alles ist Kunst!“ und „Kunst ist subjektiv und jeder muss für sich definieren, was er darunter versteht“. Sie haben Glück. Beide Aussagen sind leicht zu widerlegen. Der Begriff Kunst bildet den Gegensatz zu Natur/natürlich und meint somit etwas künstlich Erzeugtes. Weil wir davon ausgehen können, dass nicht wir die Erde geschaffen haben – darin gehen sogar Theologie und Wissenschaft einig – können wir mit Gewissheit sagen, dass gemäss Definition nicht alles Kunst sein kann. Diese Erkenntnis sollte nicht zuletzt den Künstler freuen: Wäre alles Kunst, so wäre der Künstler obsolet und somit in seiner Berufswahl schlecht beraten. Und obwohl sicherlich die Wirkung von Kunst auf den Betrachter eine subjektive ist, so kann es der Begriff selbst nicht sein. Auch das Wort Stuhl ist schwieriger zu beschreiben als anfänglich gedacht. Er kann vier oder drei Beine, ein, oder im Falle einer herunterklappbaren Sitzgelegenheit im Zug gar kein Bein haben. Er kann eckig oder rund sein, leicht oder schwer, hölzern oder eisern, sauber oder schmutzig, leer oder besetzt. Auch die Definition über die Funktion greift zu kurz. So bezeichnen wir den übergrossen Broken Chair des Künstlers Daniel Berset als Stuhl, obwohl sich niemand daraufsetzen kann. Die Dekontextualisierung allein macht ihn übrigens auch noch nicht zum Kunstwerk. Auch vor dem österreichische Möbelkaufhaus XXXLutz steht ein überdimensionierter und somit zum sitzen ungeeigneter Stuhl, den wohl die wenigsten mit Kunst in Verbindung bringen würden. Diesen Ambivalenzen zum Trotz haben wir ein Verständnis dafür, was als Stuhl bezeichnet werden kann und was nicht. Dabei ist das Ausschlussverfahren oft einfacher als eine griffige Definition. Darum lohnt sich der Gedanke, was Kunst eben nicht sein kann. Interessanterweise stösst man dabei vor allem auf Eigenschaften, die oft mit Kunst in Verbindung gebracht werden. So hört man beispielsweise merkwürdige Sätze wie „Tintoretto war seiner Zeit voraus. Er war ein beinahe zeitgenössischer Maler.“ Nur; zeitgenössisch bedeutet, wenn etwas zu einer bestimmten Zeit geschieht, ist es dieser Zeit zugehörig. Tintoretto hat mit seinem expressiven Malstil die Renaissancemalerei revolutioniert. Die Zeit ist gegeben, die Umstände sind variabel. Somit ist auch ein Maler, der heute im Stile der alten Meister malt, ein Zeitgenosse. Diese Definition der zeitgenössischen Kunst ist also keine.

Ein durchaus absurderes Wortgebilde ist jenes der freien Kunst. Kunst muss heute frei, innovativ, avantgardistisch sein. Wie dies mit dem Massenprodukt Kunststudent vereinbar sein soll bleibt rätselhaft. Wenn Kunst nicht an handwerkliches Können geknüpft ist – geknüpft sein darf – und auf Teufel komm raus etwas noch nie Dagewesenes sein muss, können Künstler unmöglich ausgebildet werden. Erst recht nicht unter den gleichen universitären Bedingungen wie Juristen, Germanisten und Physiker. Die Schizophrenie gipfelt dabei in der gepriesenen Kontextualisierung. In der dreijährigen Ausbildung zum freien Künstler wird ausgerechnet nichts so hoch geschrieben wie die Einreihung in vorhandene Arbeiten. Man könnte also sagen, die Kunstschule widerlegt die These einer freien Kunst.

 

Auch auf seine Sinne kann man sich bei der Kunst nicht mehr stützen. Wer meint, man könne heute unvorbereitet eine Kunstgalerie betreten und sich dem Gezeigten über die Betrachtung vor Ort – also über die sinnliche Wahrnehmung nähern irrt. Spätestens seit Marcel Duchamp 1917 ein handelsübliches Urinal in New York unter dem Titel Fountain als Kunstwerk ausstellte, ist die Sache nicht mehr so einfach. Sobald das Kunstwerk nicht mehr von der Toilette unterschieden werden kann, ist Vorsicht geboten. Oder um es in den Worten des US-amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto zu sagen: „Einen Gegenstand als Kunst zu sehen, erfordert etwas, was das Auge nicht heruntermachen kann – eine Atmosphäre künstlerischer Theorie, eine Kenntnis der Geschichte der Kunst: eine Kunstwelt.“ Er postuliert also eine Kunstwelt, die behauptet, „Unterschiede müssen jenseits der Wahrnehmung liegen.“ Böse Zungen könnten behaupten, dieses konzeptionelle Verständnis von Kunst komme in erster Linie dem handwerklich Zweitrangigen zugute. Vor allem aber schafft es eine Sinnkrise, aus der die Kunst seit Jahrzehnten nicht ausbrechen kann. Denn für das Teilen von Ideen und Gedanken haben wir bereits ein bewährtes Werkzeug; die Sprache. Will der Künstler bloss einen philosophischen Gedanken in den Raum stellen, ohne diesen sinnlich erlebbar zu machen, fände er in der Sprache ein weit geeigneteres Medium als in rätselhaften Installationen. Es scheint fast so, als hätten viele Kunstschaffende einen Neid auf die Philosophie und beinahe Angst vor dem sinnlich Erlebbaren entwickelt. Und wollen sie emotional berühren, dann wird oft zur Provokation gegriffen. Nur ist die Provokation auf das Überraschungsmoment angewiesen. Als der italienische Künstler Piero Manzoni 1961 seine Exkremente in Dosen abgefüllt verkauft hat, mag das seine Zeitgenossen provoziert haben. Als die Schweizer Künstlerin Milo Moré 2014 Farbeier aus ihrer Vagina „legte“, entlockte dies dem gelangweilten 20 Minuten Leser im Pendlerzug kaum mehr als ein verständnisloses Kopfschütteln. Die Provokation hat ausgedient, die Körperöffnungen sind der Kunstwelt ausgegangen.

Merda d’artista des italienischen Künstlers Piero Manzoni von 1961: Die Künstlerscheisse in der Dose hinterliess schon zur Entstehungszeit einen bitteren Nachgeschmack.

Der Konzeptkunst kann ein Satz des Philosophen Paul Rée entgegengehalten werden: „Der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher als der physische – denn es gibt keine intelligible Welt …“ Oder anders formuliert: Das intellektuelle Erschliessen unserer Umgebung bringt uns ihr nicht näher als die Sinneswahrnehmung, denn die Welt ist nicht erdacht und präsentiert sich uns somit immer über die Sinne. Diese Erkenntnis sollte die Kunstwelt dazu motivieren, die alte Freundschaft zur Ästhetik neu zu entdecken und ihr Mut zur sinnlich erlebbaren Darstellungsform zu machen. So steht am Schluss dieses Artikels eine Behauptung, die dem zeitgenössischen freien Künstler die Nackenhaare aufstellen wird: Kunst darf auch mal schön sein!


Der Autor arbeitet als Illustrator und Ausstellungsgestalter bei der Expoforum GmbH.