Von Elefanten und Bauchentscheiden

Das Prinzip der Langsamkeit 2 

Von Simon Haller

Das Herz ist wie eine Sanduhr. Anstatt der Sandkörner hat es eine gewisse Anzahl Herzschläge zur Verfügung. Das Herz eines afrikanischen Elefanten schlägt pro Minute etwa 25 Mal. Jenes der Etruskerspitzmaus etwa 1000 Mal. Der Elefant wird etwa 60 bis 70 Jahre alt. Die Etruskerspitzmaus demnach ungefähr 1.5 Jahre – sofern sie nicht vorher gefressen wird. Denn Säugetieren stehen in ihrem Leben etwa eine Milliarde Herzschläge zur Verfügung. Wir Menschen sind da ein zoologischer Sonderfall mit etwa drei Milliarden Herzschlägen. Wer also durchs Leben rast und den Herzschlag dauernd hoch hält, überhitzt den „Motor“ und verkürzt so die Lebensdauer.

Nun ist Zeit aber relativ – auch in Bezug auf die Lebensdauer. Denn wir wissen aus der Neurologie, dass bei intensiven Erlebnissen in gleicher Zeit viel mehr Erinnerungen abgespeichert werden. Dies haben Tests ergeben. Bei Extremsituationen, die sich in wenigen Sekunden abgespielt haben, waren die Erinnerungen sehr ausgeprägt. Die „Filmrolle“ unserer Erinnerungen wird bei intensiven Erlebnissen somit länger. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass, wer ein gefühlt langes Leben will, den Herzschlag nicht dauerhaft hoch halten, jedoch viel erleben sollte.

Der Film im Kopf
Wo wird denn eigentlich aussortiert, was in unserer Erinnerung landet und was nicht? Wieso können wir uns vieles, was wir lernen müssen, nicht merken? Und wieso gibt es anderes, dass sich ohne unser Dazutun auf lange Zeit in unserer Erinnerung einnistet. Vielleicht hilft folgender Test. Erinnern Sie sich an einen Lieblingsfilm? Wahrscheinlich können Sie diesen sogar ziemlich genau nacherzählen. Wieso geht das? Weil Erinnerung an Emotion gekoppelt ist. Unser Gehirn hat diese Funktion entwickelt, damit wir uns an wichtige Situationen erinnern können. Das heisst, um unsere gefühlte Lebenslänge noch weiter auszudehnen, sollten wir viel erleben. Und wenn wir viel erleben, lernen wir auch viel. Wäre es nicht interessant, wenn wir uns all diese Erfahrungen zu Nutzen machen könnten? Das können wir.

Nehmen Sie an, Ihr Chef bietet Ihnen eine Beförderung mit besserem Gehalt an. Klingt prima. Doch Ihnen ist bei der Sache irgendwie unwohl. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl oder versuchen Sie über den Verstand alle möglichen Aspekte zu erfassen und zwischen ihnen abzuwägen? Der Bauchentscheid ist oft viel besser und schneller. Das Unterbewusstsein soll pro Sekunde einige Millionen Informationen verarbeiten. Das Bewusstsein braucht viel Zeit und Energie und kommt angeblich gerade mal auf 0,1 Prozent davon. Trotzdem zieht das Bauchgefühl oft den Kürzeren. Denn diese Gefühle können wir nur schwer ergründen und in Worte fassen. Tatsächlich beinhaltet das Bauchgefühl – respektive die Intuition – die Essenz von unzähligen Erlebnissen und Erkenntnissen. Wer lernt, auf seine Intuition zu vertrauen, kann mühelos Entscheidungen treffen oder handeln und ist dabei oft sehr gut beraten. In uns steckt aber noch viel mehr Potenzial, dass wir mühelos abrufen und einsetzten können.

If you want to speed up, slow down
Zu Beginn des Artikels plädiere ich für die Langsamkeit. Es ist nun nicht so, dass wir alles langsam angehen sollten. Es gibt ja auch Momente, in denen wir Höchstleistungen vollbringen möchten – geistig wie auch körperlich. Auch zu diesem Thema lohnt sich ein Blick in die Tierwelt. Ein Leopard zum Beispiel hat einen sehr kurzen Arbeitstag. Ein paar Minuten können bereits reichen für eine fette Beute. In diesen Minuten muss er aber höchst konzentriert und extrem schnell und geschickt sein. Damit er dies erreicht, schläft er locker mal zwanzig Stunden am Tag. Dieser Effekt wurde auch im Spitzensport erkannt. Der Fussballer Christiano Ronaldo hat einen Schlafcoach engagiert mit dem Resultat, dass er pro Tag fünf mal 90 Minuten in der Embryohaltung schläft. Sein Leistungsausweis als Torjäger gibt ihm Recht.

Im Flow
Nun gibt es Leute, denen vieles mühelos gelingt, die mit Leichtigkeit Grosses erreichen. In Buch „Das Prinzip der Mühelosigkeit“ gehen Pamela Obermaier und Marcus Täuber diesem Phänomen auf den Grund. Der wahrscheinlich beste Zustand, der zu dieser Mühelosigkeit führt, ist der sogenannte Flow. Es lohnt sich sehr, sich mit diesem Zustand zu befassen. Denn er kann erreicht werden durch eine ideale Abfolge von passiven und aktiven Phasen. Die Leistungssteigerung auf vielen Ebenen ist aber nur ein positiver Effekt von vielen. Denn im Flow werden körpereigene Drogen ausgeschüttet:

  • Endorphine lindern Schmerzen und verbreitet ein Wohlgefühl
  • Dopamin erhöht intrinsische Motivation und damit auch das Energielevel
  • Noradrenalin steigert die Konzentration
  • Serotonin verbessert Stimmung, Schlaf und Appetit
  • Anandamid vernetzt unser Denken

Beim Erreichen des Flows kommt also wieder die Langsamkeit ins Spiel, mit der wir uns heutzutage ziemlich schwer tun. Nötig sind zum Beispiel das Tagträumen, gemütlich und ziellos durch die Natur schlendern oder die digitalen Ablenkungen alle links liegen lassen. Also auch hier gilt „slow down to speed up“. Oder in Phasen ausgedrückt:

  • Loading-Phase: lernen, üben, trainieren
  • Relax-Phase: tagträumen, treiben lassen
  • Perform-Phase: Leistungsphase körperlich, geistig, kreativ
  • Recovery-Phase: erholen, wiederherstellen

Wir können also zu guten Teilen selber bewirken, ob der Film in unserem Kopf ein Lieblingsfilm oder ein langweiliger Dokumentarfilm wird. Wie wollen Sie die noch verbleibenden der drei Milliarden Herzschläge erleben? Wieso nicht immer wieder mal mit einem Cocktail von legalen, körpereigenen Drogen im Kopf und dabei zu Höchstform auflaufen?


Simon Haller ist Ausstellungsmacher, hat vor 16 Jahren die Expoforum GmbH gegründet. Er schreibt für die Kunst-Zeitschrift ensuite, ist Redaktor und Referent des forumviceversa.ch.

Grafik: Claude Kuhn ©
Illustration: Onur Dinc ©