Kofi Annan und das Prinzip der Langsamkeit

Kofi Annan und das Prinzip der Langsamkeit

Von Simon Haller

Hätte ich die Biografie über Kofi Annan doch bloss früher lesen können. So aber begriff ich erst Jahre später, was sich damals im westafrikanischen Land Burkina Faso zugetragen hat.

November 1998. Es herrscht sengende Hitze in einer überbelichteten Buschlandschaft, die sich in der Ferne am flimmernden Horizont verliert. Ich bin der einzige Fahrgast, der aus dem kleinen Bus steigt. Mit Staub der roten afrikanischen Erde bedeckt, stehe ich im Dorf Oury mitten in Burkina Faso beim Volk der Kô. Es war der Auftakt zu meiner Recherche über Kulturgüterraub. Meine Absicht war, Betroffene über die Folgen des Raubs von Masken und Fetischen zu interviewen. In Oury verbrachte ich mehrere Tage, traf verschiedene wichtige Personen. Am letzten Tag wurde mein Vorhaben auf dem Dorfplatz diskutiert. Alle konnten Fragen stellen und Bedenken äussern. Die Besprechung ging jedoch zu Ende ohne Resultat. Man sagte mir, ich solle doch wieder kommen.
Nach zwei Wochen nahm ich die anstrengende Tagesreise nach Oury nochmals auf mich und verbrachte eine gute Wochen im Dorf. Wieder gab es viele Gespräche und ein Treffen mit dem Ältestenrat. Die Fragen und Bedenken wurden anscheinend nicht weniger – ich verstand ja die lokale Sprache nicht. Und wieder verliess ich das Dorf, ohne zu wissen, wie es weitergehen würde. Beim dritten Aufenthalt ging es gleich weiter. Für mich als ungeduldigen Macher keine einfache Situation. Erst beim vierten und noch längeren Aufenthalt wurde das Projekt nach vielen Gesprächen und Diskussionen dann aber einstimmig angenommen. Danach standen mir jedoch Tür und Tore offen. Ich erhielt tiefen Einblick in eine mir völlig fremde Kultur, durfte mit einem Übersetzer Betroffene interviewen und Maskentänzen beiwohnen. In enger Zusammenarbeit und in kurzer Zeit kam eine eindrückliche Recherche zustande, die den Dorfbewohnern und der Kultur der Kô dient und entspricht.

Erst einige Jahre später bei der Lektüre der Biografie über Kofi Annan begriff ich besser, was damals in Oury geschehen war.
Kofi Annan wird als guter, aber nicht herausragender Chefbeamter beschrieben. Je höher er in der UNO aufstieg, je mehr kam eine besondere Fähigkeit zum Tragen. Am meisten, als er als Generalsekretär der UNO amtete. Einverleibt wurde ihm die Fähigkeit in seiner Heimat Kumasi. Sein Vater war Stammesführer. Bei wichtigen Angelegenheiten wurde auch dort viel und lange diskutiert. Alle Probleme mussten benannt, alle Fragen und Bedenken geklärt sein, alle Ideen einfliessen. Zeit spielte keine Rolle. Wenn noch irgendjemand nicht einverstanden war, wurde die Diskussion vertagt. Lösungen wurden nicht erzwungen, mit dem Resultat, dass schlussendlich sehr weise und beliebte Entscheidungen gefällt wurden.
Kofi Annan hat dieses Prinzip in der UNO angewendet. Viele Kriege und Krisen prägten seine Amtszeit als Generalsekretär. Er ging auf alle zu, vermittelte und drängte nicht auf Lösungen hin. Dabei erntete er Sympathien und Vertrauen. Auch verfeindete Parteien konnten nach und nach in Prozesse einbezogen werden. Schlussendlich erzielte Kofi Annan in einem sehr schwierigen Umfeld beachtliche Erfolge, sei es in der Friedensförderung, bei der Lancierung der Millennium Goals oder im Bereich Public Private Partnership. Gemeinsam mit der UNO erhielt Annan 2006 den Friedensnobelpreis für seine Erfolge als grosser Vermittler.

Erst da wurde mir die Qualität dieses Prinzips der Langsamkeit  bewusster und auch, was in Oury geschah. Während meinen Besuchen konnte das Projekt stark reifen und an Qualität gewinnen. Zum einen durch die Schwarmintelligenz des Dorfrates, zum anderen, weil Zeit eben keine Rolle spielte. Introvertierte und scheue Leute, oder, wie ich in den Interviews erfahren hatte, gerade Opfer, die Scham empfanden, weil ihnen wichtige Masken gestohlen – ihnen allen wurde kein Zeitdruck auferlegt. Schliesslich ging es um einen der intimsten Bereiche dieser Gesellschaft. Deshalb mussten alle Probleme erkannt werden. Denn, wie schon Einstein sagte: „Das Problem zu erkennen, ist wichtiger, als die Lösung zu finden, denn die genaue Darstellung des Problems führt zur Lösung.“
So hatte ich schlussendlich die Gewissheit, dass die Recherche im Sinne des Dorfes ist, dass nichts Falsches oder Heikles publiziert wurde. Es blieb aber auch Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen. Viele lustige Missverständnisse führten zu einer freundschaftlichen Verbundenheit. Ein Beispiel: Eines Tages wurde ich auf den Markt gebeten. Dort gab es zwei Paar rätselhafte Schuhe. Einige Leute haben sie getestet. Aber sie erkannten keinen Nutzen. Es handelte sich um Ski- und Langlaufschuhe. Ich versuchte ihnen dann Schnee, Skifahren und Langlaufen vorzuführen. Für sie muss es wie ein dadaistisches Theater gewirkt haben. Oder meinem Gastgeber wollte ich mal ein Geschenk geben. Das kam nicht besonders gut an. Ich erfuhr dann, dass man Geschenke eben nicht direkt schenkt, sondern einer anderen Person gibt. Denn wenn eine Person geachtet ist, kann das Geschenk irgendjemandem im Dorf gegeben werden – sie wird es weitergeben. Im Animismus oder Ahnenkult ist dieses Prinzip des nicht direkten Ansprechens zentral. Es braucht jeweils ein Medium, das vermittelt. Auch die Maske ist bei den Kô ein Medium als Verbindung zur Ahnenwelt.

Zurück
In der Schweiz stiess die Recherche aus Burkina Faso auf enormes mediales Interesse und löste viele Diskussionen aus – ganz im Sinne der Kô. In der Ausstellung „Entwurzelt – Kulturgüterraub am Beispiel Burkina Faso“ im Museum Schwab in Biel haben vier Personen aus Burkina Faso mitgewirkt, unter ihnen der Maskenschnitzer Tankien Konaté und der Ethnologe Lassina Millogo. Ein paar Wochen habe ich ihnen meine Wohnung an der Herrengasse in Bern überlassen und bin zu meiner Freundin gezogen. Für die beiden war es ebenfalls eine Herausforderung, sich in Bern und Biel zurechtzufinden. Zu Beginn zeigte ich Ihnen in der Migros Marktgasse, wo sie Spaghetti und Tomatensauce finden. Später sah ich, dass die beiden nie etwas anderes gekocht haben. Oder beim Blick auf die Aare meinte Tankien „Dieu nous à oubliés quand il a partagé l’eau“. Es gibt zahlreiche solcher Anekdoten. Auf dem Heimweg vom Bahnhof an die Herrengasse spielte Tankien jeweils rhythmisch auf seiner kleinen Strohgitarre und sang dazu. So, wie er es auch zuhause jeden Feierabend tat. In den Berner Lauben war er eine Attraktion ohne es zu merken. Und schon bald wurde er vom Organisator des Festivals „Anyone Can Play Guitar“ entdeckt und zu einem Auftritt auf der kleinen Schanze eingeladen.   

Langsam erfolgreich
Die Langsamkeit als Mittel zum Zweck ist unserem Zeitgeist fremd. Wird doch heute als erstrebenswert erachtet, was schneller ist. Schon in den Ausbildungen werden uns Eifer und Schnelligkeit anerzogen. In Prüfungen geht es nicht nur darum, Aufgaben zu lösen, sondern dies auch möglichst schnell. Oder bei den Medien geht es meistens darum, Nachrichten am Schnellsten zu veröffentlichen. Dass dabei die Qualität auf der Strecke bleibt, versteht sich von selbst.
Langsamkeit gezielt einsetzen kann aber zu erstaunlichen Resultaten führen. Mehr dazu an dieser Stelle in der nächsten Ausgabe des Ensuite.


Simon Haller ist Gründer der Expoforum GmbH. Für die Recherche in Burkina Faso wurde er mit dem Medienpreis der Stiftung Eckenstein ausgezeichnet. Im Auftrag vom Bundesamt für Kultur und der Schweizerischen UNESCO-Kommission durfte er die Ausstellung „Kultur-Güter-Transfer-Gesetz“ realisieren. Während dieser Ausstellung hat das Parlament dieses Gesetz mit einem Plus von fünf Ja-Stimmen angenommen.

Fotos: Patrick Darlot ©