Kann man Literatur ausstellen?

Kann man Literatur ausstellen?

Von Juliane Wolski

Es sind vertraute Situationen: das Lesen im Buch, unter einem Baum im Garten oder zur abendlichen Stunde im Bett, bequem sitzend im Sessel oder reisend im fahrenden Zug. Wir sind vertieft in die Handlung und vergessen alles um uns herum … Was Texte in unserem Kopf bewirken können, ist ein Wunder! Welchen Mehrwert kann eine Literaturausstellung da noch schaffen?

Texte entfalten sich im linearen Lauf der Zeit, während dem Lesen, Sprechen oder Zuhören. Beim Lesen folgen wir den Zeichen: Wort für Wort, Zeile um Zeile, Absatz um Absatz. Vielleicht überspringen wir einige Passagen. Trotzdem gibt die Buchstabenfolge eine Richtung vor, die durch die Überlagerung inhaltlicher Ebenen – bestehend aus Rückblenden, Vorgriffen, Sprüngen oder Verschachtelungen – in den Hintergrund tritt. Und schon ist man mitten im Text. Die Buchstaben werden kaum mehr wahrgenommen, stattdessen tritt der Gedanke hervor. Semantik wird zu Literatur, die Zeichen legen Geschichten frei, die individuelle Vorstellungskraft entwickelt dazu einzigartige Bildsequenzen.

Während Literatur im Kopf entsteht, zeigt der Ausstellungsraum «Dinge», die in verschiedene Anordnungen und Zusammenhänge gestellt werden und eine ästhetische Erfahrung ermöglichen. Literatur hingegen ist erst einmal «Code», der am besten im gedruckten Buch aufgehoben ist. Hier beginnt die grosse Herausforderung für die Literaturausstellung, die Immaterielles sichtbar machen möchte. Wie kann sie das?

Anhand zweier Ausstellungsprojekte, die mein Team und ich mit der Kuratorin Christa Baumberger und dem Designer Simon Husslein realisieren durften, möchte ich mögliche Antworten geben.

In den beiden Ausstellungen «Friedrich Glauser – Ce n’est pas très beau» (Museum Strauhof, Zürich, 2016) und «Im Fluss – Literatur zwischen Aare, Limmat, Reuss und Rhein» (Forum Schlossplatz, Aarau, bis Januar 2021) werden wichtige Quellen und Zeugnisse zu den Autorinnen und Autoren, ihren Werken und möglichen Inspirationsquellen gezeigt. Anstatt in Konkurrenz zum gedruckten Werk im Buch zu treten, verweisen die Ausstellungen auf das, was vor und nach dem Lesen entsteht: Manuskripte, Handschriften, Briefe, Autorenbilder, Bücher, Einbände, Illustrationen und Rezensionen. Ergänzung finden sie in Auszügen aus Verfilmungen oder Lesungen, in Interviews und Kommentaren, die auf Screens und an Hörstationen abgerufen werden können. Auch die Sprache «kommt zu Wort», indem sie anhand zahlreicher Zitate im Raum sichtbar gemacht wird. Damit erzählen die Ausstellungen von Entstehungsprozessen, sie legen biografische und gesellschaftliche Zusammenhänge offen und thematisieren die Rezeption und Interpretation eines Werkes.

Den atmosphärischen Zugang aber schafft die Ausstellungsarchitektur, die Textstrukturen und Erzählstrategien aus dem literarischen Werk in die Ausstellungsarchitektur übersetzt oder mit Installationen starke Wirkungen im Raum bildet:

So schlängelt sich das zentrale szenografische Element in der Ausstellung «Im Fluss» als wellenförmige, fliessende Wand durch die Ausstellungsräume der herrschaftlichen Villa. Die Wand illustriert nicht nur das Thema, sondern liefert auch die Lösung für das Problem, wie sich die einzelnen, in sich geschlossen wirkenden Ausstellungsräume miteinander verbinden lassen. Obwohl das mäandernde Wandelement die strikte Trennung zwischen den einzelnen Räumen und Kapiteln der Ausstellung aufhebt, markieren Ton- und Lichtstimmungen thematische Übergänge und schaffen so eine dramaturgische Struktur.
Ton und Licht haben aber auch eine weitere wichtige Funktion: Sie verleihen dem Ausstellungsparcours eine ruhige und stimmungsvolle, an Unterwasserwelten erinnernde Atmosphäre. Diese ermöglicht dem Publikum das Eintauchen in eine Parallelwelt, die den Alltag ausblendet.
Doch gerade im technischen Bereich ist den vorhandenen finanziellen Limits nur mit Ideenreichtum beizukommen, denn zusätzliche professionelle Lichttechnik kann den Budgetrahmen eines kleinen Museums schnell sprengen. Darum verwendet Simon Husslein die in den Ausstellungsräumen vorhandenen Lichtschienen und Strahler, arbeitet mit farbigen Folien, Dimmern und Reglern und setzt LED-Bänder ein, die als günstige Meterware erhältlich sind.

Ein markanter Bestandteil der Glauser-Ausstellung «Ce n’est pas très beau» ist das parcoursbestimmende, überdimensionierte Fenstermotiv im ersten Raum, eine Interpretation des Zellenfensters der psychiatrischen Klinik, in die Glauser wiederholt gesperrt wurde. Unterstützt durch die Dunkelheit des Raumes, wird eine Sogwirkung suggeriert, die die Besucherinnen und Besucher in ein tragisches Lebenskapitel des Schriftstellers zieht, das seinen Widerhall auch im literarischen Werk findet.
Die Orientierungslosigkeit, die das Leben Glausers prägte, thematisiert der zweite Raum. Die Besuchenden befinden sich in einer labyrinthartigen Situation, die durch die Biografie Glausers führt, aber die Übersicht über den Raum und seine Dimensionen verlieren lässt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Literaturausstellungen verschiedene Komponenten, Ausschnitte, Fragmente zu einem neuen Ganzen zusammensetzen können. Sie schaffen Bilder, die Hintergründe vermitteln und Einblicke in grössere Zusammenhänge ermöglichen. Sie können auf das literarische Werk verweisen und im besten Fall Lust auf das Lesen machen. «Man kann Literatur ausstellen», schreibt die Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin Heike Gfrereis, «damit man sieht, dass man sie nicht auf einen Blick, mit einem Wort, einem Sinn verstehen kann.»


Juliane Wolski ist Designerin, Kuratorin und Dozentin an der Schule für Gestaltung Bern und Biel. 2005 gründet sie «Pol», ein Atelier für Visuelle Kommunikation und Designprojekte. 11 Jahre betreibt sie den nicht-kommerziellen Kunstraum «Grand Palais», anschliessend den Offspace «Antichambre». Sie ist im «Kollektiv Bern» aktiv und hat mit einer Kerngruppe aus dem Zusammenschluss der Berner Kunsträume das Projekt «Connected Space» initiiert.
atelier-pol.ch / sfgb-b.ch / connected-space.ch