Das 1 + 1 = 3 der Verhandlung

Das 1 + 1 = 3 der Verhandlung

Von Dr. Robert M. Stutz, Illustration: Rodja Galli

Wie wir verhandeln, hängt sehr davon ab, wer wir sind und welche Werte wir leben. Und diese Werte sind einem Veränderungsprozess unterworfen, der sich in Krisensituation deutlicher zeigt denn je.

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Dieses Zitat von Aristoteles, welches die Wichtigkeit der Gruppe und das in ihr liegende Potential unterstreicht, ist in den letzten Jahren etwas in Vergessenheit geraten. In Zeiten der Hochkonjunktur scheinen dem Wachstum keine Grenzen gesetzt. Umweltprobleme werden kaum thematisiert, der Wohlstand des Einzelnen steht im Vordergrund und verheisst Glück für alle. Dies ist Ausdruck des Zeitgeists, der dominierenden Wertvorstellungen einer Gesellschaft und war während langer Zeit auch prägend für das Verhandeln von Verträgen über die Realisierung innovativer Ideen und kreativer Leistungen, und ebenso für die Verteidigung der daran bestehenden Rechte. So wurden etwa bei der erfolgreichen Durchsetzung der Apple-Patente und Designrechte gegen Samsung erstmals in der Geschichte Schadenersatzsummen in Milliardenhöhe gesprochen. Immaterialgüterrechte, wie Patente und Designs, wurden damit mehr denn je zu zentralen Vermögenswerten.

Gerade in der heutigen Zeit der Pandemie und der rasant wachsenden Umweltprobleme bekommt das Zitat von Aristoteles wieder eine aktuelle, grundlegende Bedeutung. Was es in Anbetracht der globalen Herausforderungen braucht, sind adäquate Modelle, bei denen nicht allein kompetitives Verhalten Glück verheisst. Konsumverzicht und verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen bedingt vermehrt eine Orientierung an kollektiven Werten, statt sich weiterhin der Illusion eines grenzenlosen Wachstums hinzugeben. Die vor uns liegenden Herausforderungen können wir nur vereint meistern. Dies erfordert auch ein entsprechendes Umdenken beim Verhandeln von Projekten. Es gilt, sich dessen bewusst zu werden, welche Tragweite das eigene Handeln für die anderen hat, für die Gemeinschaft hat. Wer sich in Verhandlungen darum bemüht, auch die Interessen des Vis-à-vis zu verstehen und zu respektieren, legt damit den Grundstein für einen kollaborativen Ansatz, bei welchem nicht der kurzfristige Eigennutz im Fokus steht. Dies setzt aber einen Wertewandel einer kritischen Masse voraus. Denn wenn nur Einzelne sich an kollektiven Werten orientieren und das Umfeld nicht mitzieht, bleiben sie auf der Strecke.

Der amerikanische Psychologieprofessor Clare W. Graves hat in der Mitte des letzten Jahrhunderts, ausgehend von der Maslow‘schen Bedürfnispyramide, ein Modell entwickelt, welches Einsichten in die Gesetzmässigkeiten des Wertewandels erlaubt. Graves untersuchte in seiner Arbeit, welche Stadien ein Mensch auf dem Weg der Persönlichkeitsentwicklung durchläuft. Dabei benennt das Graves-Modell zwei grundlegende Orientierungen: Während die einen sich egozentrisch an erste Stelle setzen und sich dabei an den eigenen Bedürfnissen orientieren (ICH), nehmen andere sich primär als Teil einer Gruppe wahr und stellen sich in den Dienst derselben (WIR). Weiter erkannte Graves, dass ein individueller Wertewandel stets zyklisch verläuft und stets mit einem Dilemma einher geht: Immer dann, wenn sich bei einer ICH-Fokussierung eine Sättigung einstellt und sich die Erkenntnis zeigt, dass etwa die Gruppe besseren Schutz oder das Kollektiv mehr Möglichkeiten bietet, kommt es zu einem Wechsel hin zum Kollektiven. Und wenn sich dann im WIR zu grosse Einschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit bemerkbar machen, erfolgt ein erneuter Wechsel hin zum ICH, obwohl man sich damit vom Schutz der Gruppe wieder verabschiedet. Graves hat dazu acht Entwicklungsstufen mit unterschiedlicher soziokultureller DNA (auch Meme genannt) beschrieben, die nacheinander durchlaufen werden. Dieses Modell wurde von den Psychologen Don Beck und Christopher Cowan unter der Bezeichnung «spiral dynamics» weiterentwickelt und dabei die jeweiligen Stufen mit verschiedenen Farben gleichgesetzt, um sich diese besser merken zu können (Grafik unten). So bewegen wir uns – abhängig von unserer soziokulturellen DNA – in der persönlichen Entwicklung etwa vom rebellischen Helden hin zum gesetzestreuen Bürokraten, und weiter zum freiheitsliebenden Wissenschaftler.

Das Graves-Modell dient als Diagnoseinstrument und auch als Veränderungswerkzeug in der Arbeit mit Einzelnen, Teams, Organisationen oder Unternehmungen. Zudem hilft es bei Verhandlungen, um die Verhandlungspartner und ihre Werte besser zu verstehen und darauf eingehen zu können. Wenn mein Gegenüber dem Reichtum verpflichtet ist und Freiheit und Erfolg als zentrale Werte lebt, werde ich Mühe bekunden, ihn von nachhaltiger Wirtschaft, erneuerbaren Energien oder Gleichberechtigung zu überzeugen. Zumindest setzt die Konsensfindung in einer solchen Konstellation voraus, dass ein von wechselseitigem Vertrauen getragenes Verhältnis besteht, was wiederum eine Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und denen des Gegenübers erfordert, sowie eine grosse Portion Akzeptanz. Wertewechsel, so Graves, erfolgen nicht beliebig, sondern vollziehen sich entlang der beschriebenen Entwicklungsstufen. Erst nach der erworbenen Erfahrung einer Stufe, ist ein nachhaltiger Entwicklungsschritt möglich.

Finden sich schon Anzeichen für einen Wertewandel hin zu systemischem Denken oder holistischen Konzepten bei Verhandlungen über Immaterialgüterrechte? Ich meine ja. «Wem gehören die Rechte?» ist eine zentrale Frage in meinem beruflichen Alltag, wenn die Nutzung von geistigen Leistungen verhandelt wird. Unter welchen Voraussetzungen werden Nutzungsrechte an einem Design eingeräumt? Wozu darf ein Patent verwendet werde? Darüber werden Diskussionen geführt, bei welchen die Parteien sich regelmässig um die Exklusivrechte zanken. In manchen Fällen beharren die Parteien stur auf ihren Positionen (ICH). «Meins, meins, meins!» ist dann das Credo. Wiederum andere erheben keine Exklusivansprüche, sondern verabschieden sich vom Gedanken an ein ausschliessliches Eigentum. Dies ist etwa der Ansatz von Open Source und von Creative Commons. Hier stehen nicht die Monopolrechte am geistigen Eigentum im Mittelpunkt, sondern die kollektive Nutzung (WIR). Wenn jede/r aufbauend auf dem bereits Geleisteten schneller vorankommt, profitieren längerfristig alle. Hier wird der Vernetzung der Gemeinschaft im Glauben an eine kollektive Intelligenz, die den Prozess der Weiterentwicklung einer Lösung beschleunigt, der Vorzug eingeräumt.

Gerne möchte ich zwei Beispiele aus meinem Alltag aufzeigen, die von kollaborativen Ansätzen geprägt waren, bei denen das Ausloten gegenseitiger Interessen den Verhandlungsspielraum vergrössert und dies dann zu einer Lösung geführt hat, die den Interessen beider Seiten diente. Da es sich um konkrete Mandate handelt, zu denen ich aus Gründen beruflicher Geheimhaltungspflicht keine Angaben machen darf, werde ich die Sachverhalte nur anonymisiert wiedergeben.

Der sehr erfahrene Designer X hat sich im Laufe der letzten Jahre im Bereich des Industriedesigns zu einer renommierten Grösse entwickelt. Er war an einem neuen Projekt beteiligt, das von einem Start-up-Unternehmen mit nur sehr begrenzten finanziellen Mitteln initiiert worden war. X stellte Unterstützung und Know-how zur Verfügung und trug mit einem innovativen Design entscheidend zu einem erfolgreichen Projektabschluss bei. Anstatt darauf zu beharren, seine Rechte am Design zu behalten, war X jedoch damit einverstanden, sämtliche Rechte am geistigen Eigentum an das Start-up-Unternehmen abzutreten. Dies um dem Start-up die Kommerzialisierung des Projektresultates zu erleichtern, weil das Design so flexibler geändert, aber auch verkauft werden kann, falls dies in der Zukunft erforderlich sein sollte. Und im Gegenzug forderte X lediglich das Recht ein, bei zukünftigen Entwicklungen erneut berücksichtigt zu werden.

Ein weiteres Beispiel ist das des Unternehmens Y, das aufgrund seiner Grösse in der Regel darauf besteht, alle Urheberrechte an der für sie entwickelten Software vertraglich übertragen zu erhalten. In einem Fall hat Y jedoch erkannt, dass die Rechte für die Softwareentwicklerin von grundlegenderer Bedeutung sind, als für das Unternehmen Y selber. Denn nur wenn die Rechte an der Software bei der Entwicklerin verbleiben, ist die Optimierung und Weiterentwicklung neuer Produkte gewährleistet und davon profitiert langfristig auch Y.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass durch einen solchen Wertewandel mehr Raum für kollaborative Verhandlungen entsteht. Es liegt mir fern, Kreative dazu aufzufordern, die persönlichen Bedürfnisse zurückzustellen und auf die eigenen Rechte a priori zu verzichten, denn die Immaterialgüterrechte bilden den Grundstein für ihr wirtschaftliches Fortkommen. Dieser Artikel soll jedoch ein Plädoyer dafür sein, den Verhandlungspartnern respektvoll zu begegnen und sich wechselseitig an den langfristigen, gemeinsamen Zielen zu orientieren, statt am schnellen Erfolg auf Kosten des Gegenübers. So setzt sich hoffentlich ein systemisches Denken durch, das der Komplexität einer globalisierten Welt und der bestehenden Wechselwirkungen zwischen den Marktteilnehmer mehr Rechnung trägt. Wenn wir uns am Gemeinwohl orientieren, statt am persönlichen Profit, schaffen wir an einem Mehrwert für alle.
1 + 1 = 3.


Dr. Robert M. Stutz ist Rechtsanwalt und Mitinhaber der Anwaltskanzlei Beutler Künzi Stutz AG. Als Coach und Trainer leitet er Workshops zur „Kunst des Verhandelns“. Wer Interesse hat, sein Verhandlungsgeschick zu verbessern, findet aktuelle Kursangebote unter www.torneys.ch