Einmaliger Stadtführer

Einmaliger Stadtführer 

Von Simon Haller

Kurzfilm: Massimo Rocchi als Jäger im Naturhistorischen Museum

www.baernischeso.ch

Wie könnte ein Stadtführer aussehen, der keine Orientierungshilfe bietet, der nicht sagt, wo Besucher was in welcher Qualität erhalten, was man gesehen haben muss, wo man gegen Geld schlafen kann – ein Stadtführer der nicht für Touristen gedacht ist? Oder andersrum gefragt, wie könnte ein Stadtführer aussehen, der dem Wesen einer Stadt nachspürt, der intelligent unterhalten will und sich viel mehr an Einheimische und Interessierte richtet?

Als diese Idee der Burgergemeinde Bern Angriff genommen wurde, gab es kaum Vorgaben, aber viele Fragen. Wie kann man Bern und seiner mannigfaltigen Bevölkerung gerecht werden? Welche Orte sollten vorkommen, welche Geschichten erzählt werden? Und welche darf man weglassen? Letzteres war eigentlich das grösste Problem. Diesem Dilemma begegneten wir, indem wir die Auswahl einer breiten Autorenschaft übergaben. Somit war ein wesentlicher Teil des Konzepts geboren. Über achtzig Autor*innen haben sich beteiligt an Hörbeiträgen, Lieblings- und Thementouren, Kurzfilmen, Schultouren, Kinderangeboten und vieles mehr. So entstanden komplett verschiedene Blickwinkel auf die Stadt.

Eine Person wollten wir als Zugpferd, um den Stadtführer beliebt zu machen. Humorvoll, geistreich, sympathisch und kritisch sollte sie sein. Gefunden haben wir sie in Massimo Rocchi, der acht wunderbare Kurzfilme beigesteuert hat. Er begibt sich zum Beispiel als Jäger ins Naturhistorische Museum oder als Babysitter ins Generationenhaus.

Für die über hundert weiteren Beiträge wurden verschiedenste Persönlichkeiten angefragt. Denn eine Stadt ist wie eine Collage. Vieles gedeiht zusammenhangslos und ergibt trotzdem ein Gesamtbild.

„In der Bahnhofshalle riecht es unpersönlich, nach Grossverteiler, mittelklassigem Parfum und schwammigem, aufgebackenem Weissbrot.“ Mit diesem Satz beginnt die Tour von Yvonne Scherrer, der blinden Radiojournalistin. Sie geht der Frage nach, wie riecht Bern? Sie beschreibt neun Orte, die olfaktorisch Einiges erzählen, etwa „Die Matte ist schattig, das erkennt die Nase…“ Wer will da nicht weiterlesen?

Einige Autor*innen haben intensiv mitgewirkt. So der Schriftsteller und Musiker Balts Nill. Anfänglich tat er sich schwer mit der digitalen Form und der Kürze der Beiträge. Diesen Widerstand sah ich als Herausforderung und Chance. Denn wenn er überwunden werden konnte, dann nur durch Qualität. Es galt also, spannende Kurzformen zu entwickeln, aber auch Themen und Geschichten aufzuspüren, die faszinieren. Balts fand immer mehr gefallen und schrieb zum Beispiel die Brückentour, Visionentour oder zur letztem Ruhe. Er erhielt historische Informationen zu den Themen und schrieb dann in eigenwilligem Stil.

Schwimmunterricht im Marzili

Eine wichtige Partnerin war auch die Journalistin „Frau Feuz“. In der Bäder-Tour tönt das etwa so: „… schlaksige Teenager rennen um Ping-Pong-Tische, durchtrainierte Körper werden stolz spazieren geführt, die Kleinsten pinkeln ins wadentiefe Kinderbecken und lädierte Partyraketen schlafen unter den Bäumen ihren Rausch aus. Tout Bern trifft sich im Marzil…“. Oder „Ein Hauch DDR weht durch die Schwimmhallen des «Muubeeri»: alles schön schlicht, funktional und ein wenig angeranzt.“

Wie wollten aber auch erfahren, wie die Stadt von kritischen Geistern aus andern Kulturen wahrgenommen wird. Der englische Autor Diccon Bewes entdeckt viel Komisches an Bern: „Most people walk past the old stones in the station underpass without noticing them, or realising what they are. These are the last remnants of the huge city gate, the Christoffelturm, that was demolished in 1864 – after a referendum, of course. Only the Swiss could democratically destroy a medieval landmark.“ Auch in seinen empfehlenswerten drei Hörbeiträgen kriegen die Berner*innen ihr Fett weg – und dies very British.

Einige Hörbeiträge haben es in wirklich in sich. Zum Beispiel jener von Matto Kämpf zum Zytglogge-Pissoir. Bei diesem gab es eine Diskussion darüber, was erlaubt sein soll. Die Diskussion endete bei der grundsätzlichen künstlerischen Freiheit, die wir ebenso hochhalten. Alle Beiträge im Stadtführer sind also unzensiert.

Eine weitere Frage war, wie auf attraktive und eigenwillige Art über die Geschichte der Stadt erzählt werden könnte. So laden spannende historische Figuren zu Touren und Hörbeiträgen ein. Albert Einstein sagt zu seinem Brötlijob im Patentamt: „Mir geht es gut; ich bin ein ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheisser mit ordentlichem Gehalt.“ Dass er nahe am Zytglogge gewohnt hat, mag ihn inspiriert haben dem nachzugehen, was ihn wirklich interessierte: „Meine Lösung war eine Analyse des Begriffs der Zeit. Die Zeit kann nicht absolut definiert werden, und es gibt eine nicht aufhebbare Beziehung zwischen Zeit und Signalgeschwindigkeit.“ Kurz: E = mc²

Auch die Schulen sollten die aussergewöhnlichen Seiten der Stadt kennenlernen. Beim Zytglogge wird zwar nicht die Relativitätstheroie erklärt, aber immerhin das Astrolabium, also die astronomische Uhr. Oder in der Matte gibt es eine Einführung ins Matten-Englisch. Und beim Lischetti-Brunnen werden die Schüler*innen zu einer politischen Rede aufgefordert.

Marcus Signer erzählt in seinem Hörbeitrag über die Abrüstungsperformance von Carlo Lischetti

Die Frage, über wen berichtet wird und über wen nicht, war durch die Vergabe an die Autorenschaft noch nicht ganz vom Tisch. Was tun mit den Institutionen, die den Stadtführer bereichern könnten? Sie wurden eingeladen, allerdings mit einer Bedingung: Sie sollen nicht sagen wer sie sind und was sie tun. Vielmehr sollen sie erheiternde, spannende, geistreiche, überraschend Geschichten erzählen. Für das Stadttheater holte Uwe Schönbeck ein schräges Stück des Sonderlings Karl Valentin aus dem Bücherregal. Oder das Historische Museum erzählt im Stile Trudi Gersters das Märchen vom Burger King. Der Tierparkdirektor Bernd Schildger wiederum führt uns in die zoologischen Geheimnisse über den Homo Sapiens Bernensis ein. Zahlreiche Spezialist*innen reihen sich unter die Autoren. Wie war das nochmals mit dem Blutturm, dem Blutgericht und weshalb galt das Einsperren im Mittelalter nicht als Strafe? Was schrieb Paul Klee Entblössendes über das sonntägliche Kunstpublikum?

Wenn Sie sich in den Stadtführer „Bärn isch eso“ vertiefen, werden Sie gut unterhalten und Sie werden an den nächsten Smalltalks auftrumpfen können. Versüssen Sie sich die Corona-Pause.

Bärn isch eso – der Stadtführer für Einheimische
Die Webseite und die kostenlose App bieten Beiträge von über 80 Autoren:

  • 56 Hörbeiträge
  • 53 Lieblings- und Thementouren
  • 12 Kurzfilme
  • 3 stufengerechte Schultouren
  • Verschiedene Angebote für Kinder
  • Stadtpanoramen von 1894 und 2013
  • Restaurantführer der Autorenschaft

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